Dienstag, 8. Februar 2011

Elemente der Innerparteilichen Demokratie der Piratenpartei

Was macht die innerparteiliche Demokratie der Piratenpartei aus, was unterscheidet sie von anderen Parteien? Eine Auflistung. Wenn ich etwas vergessen habe, bitte ich um Ergänzung in den Kommentaren:

Basisdemokratie: 
a) Verzicht auf Delegiertensystem beim Bundesparteitag
  • Um jeden interessierten Parteimitglied möglichst viel Mitbestimmung zu ermöglichen, verzichtet die Piratenpartei auf ein Delegiertensystem. Jedes Mitglied hat beim BPT so eine Stimme. 
  • Problematisch: Je nach Standort des Parteitags dominieren gewisse Landesverbände. Mangels Delegierter, gibt es auch keine Frauen-Quotierung. In der Folge dominieren Männer die Partei-Versammlungen. Zudem könnte eine zu hohe Teilnehmerquote oder steigende Mitgliederzahlen sich langfristig als problematisch erweisen. 
  • Als Lösung werden Parteitage diskutiert, die in verschiedenen Ländern gleichzeitig stattfinden und durch Video-& Audio-Übertragungen miteinander verbunden werden, sogenannte "Dezentrale Parteitage".
b) Rede- & Antragsrecht für alle Parteimitglieder in allen Gremien
  • Parteimitglieder genießen auf Bundes- und Landesparteitagen, aber auch auf Vorstandssitzungen der Landes- und des Bundesverbändes ein niedrigschwelliges Rede- und Antragsrecht. Für einen Antrag im Bundesvorstand sind beispielsweise nur eine gewisse Zahl an Unterstützer im Wiki nötig
c) Liquid Feedback
  • Das Tool dient dazu abseits von Bundesparteitagen Meinungsbilder in der Partei zu erfassen, die dem Parteivorstand als Orientierung dienen. Zudem dient Liquid Feedback dazu die unübersichtlichen Debatten in der Partei zu verdichten und tatsächliche Textarbeit zu leisten. Beim letzten Parteitag wurden zahlreiche Anträge aus Liquid Feedback von den Anwesenden bestätigt.  
d) Online-Abstimmungstools
  • Die Piraten haben vornehmlich in den Landesverbänden zahlreiche Systeme entwickelt. Etwa der Piraten-Sextant oder die Meinungsfabriken (MV, Bayern, für den Bundesparteitag in Bingen). Im Landesverband Hessen werden Umfragen durch eine Website durchgeführt, für die Mitglieder eine jeweils eine anonymisierte Einladung per E-Mail erhalten. 
  • Nachteil: manchmal nicht repräsentativ (da theoretisch fälschbar, bzw. vom Vertrauen des Admins abhängig), manchmal nicht anonym, manchmal ermöglichen sie nur dem Vorstand die Initiative. 
Transparenz:

a) Dokumente
  • Die Telefonkonferenzen abgehaltene Vorstandssitzungen werden live ins Internet gestreamt. Der Stream ist sogar als Podcast in iTunes abonnierbar.
  • Praktisch sämtliche Mailinglisten der Partei sind öffentlich (Ausnahmen: Bundes- und Landesvorstände, sowie die Schiedsgerichte. Zudem gibt es vereinzelt geschlossene Liste für Organisationen, z.B. von Wahlkämpfen)
  • Sämtliche Protokolle von den kleinsten Crew-Sitzungen bzw. Stammtische bis hin zu umfangreichen Wort- Antrags- und Ergebnis-Protokollen von Landtags- und Parteitagen sind vollständig öffentlich (Beispiel Brandenburg).
  • Ebenfalls sind sämtliche Stammtische, Vorstandssitzungen und auch Parteitage für Gäste öffentlich. 
  • Wohl auch als symbolischer Akt, hat die Piratenpartei Deutschland einen Wikileaks-Server gehostet
b) Hohe Anforderungen an Transparenz der Kandidaten: 
  • Die Mitglieder des letzten Bundesvorstands wurden intensiv ausgefragt, dass es fast schon an Verhöre erinnerte. 
  • Alle Kandidaten - egal für welche Positionen - präsentieren sich in der Regel enorm ausführlich im Netz, häufig auf Wiki-Profilseiten, ein Beispiel
  • Häufig wird auch das Tool "Politicalcompass" genutzt und in Profile eingefügt, etwa hier
  • Um das Prozedere zu vereinheitlichen haben etwa die Berliner Piraten ein Fragetool für die Kandidaten entwickelt: http://berlin.piratenpartei.de/piratomat.html
  • Auch die Offenlegung der LQFB-Idendität, und damit der Abstimmungshistorie, wird erwartet.
  • Problematisch: Die Transparenz-Anforderungen gehen sehr weit und werden selbst für kleinste Parteiposten verlangt. Vielen Piraten gehen diese Anforderungen zu weit. Sie fühlen sich in ihrem Datenschutz verletzt. 
Hang zu dezentralen, flexiblen und losen Strukturen:

a) Das Crewkonzept
  • In manchen Landesverbänden (NRW, Berlin) verzichtet die Piratenpartei auf Kreis-, Bezirks- und Ortsverbände. Stattdessen setzt sie auf lockere "Crews". Dies sind meist 5-9 Piraten die in der Regel auch einen Stammtisch bilden. Diese sind durch einen Sprecher und eine Sprecher-Mailingliste mit einander verbunden. Für spezielle Anliegen gibt es zudem horizontale Arbeitsgruppen, -kreise und Projektgruppen. 
  • Das Konzept soll strukturelle Verkrustungen vermeiden, Hierarchien abbauen und die "Jagd" nach Partei-Posten reduzieren. (Ausführlich hier)
  • Problematisch: fehlende Kompetenzen, chaotisch, da unübersichtlich, teils fehlende Verantwortbarkeit, intern umstritten. 
b) Die virtuelle Geschäftsstelle
  • Die Piratenpartei unterhält zwar ein reale Bundesgeschäftsstelle in Berlin, nutzt diese jedoch kaum. Das Ladengeschäft wird primär für Treffen von Arbeitsgruppen des Landesverbandes Berlin genutzt. Zurzeit wird eine virtuelle Geschäftsstelle erarbeitet, bei der die anfallende Büro-Arbeit unter aktiven Parteimitgliedern aufgeteilt und von diesen vom heimischen PC erledigt wird.
c) Der Nicht-Zwang zur Mitgliedschaft
  • Bei vielen Stammtischen sind auch Nicht-Mitglieder anwesend (oft "Freibeuter" genannt). Die Mitgliedschaft ist eher eine freiwillige Unterstützung und nur Stimmrechte in Liquid Feedback und bei Bundesparteitagen notwendig. 
  • Auch Doppel-Mitgliedschaften sind in der Piraten
d) Ehrenamt / Keine Bezahlung
  • Keine der vielen Aktiven - egal ob in der IT, im Vorstand, in der virtuellen Geschäftsstelle, ob bei der Gestaltung der Website oder in der Pressearbeit - bekommt Geld. Dies soll vermeiden, dass sich manche Mitglieder mehr Macht gewinnen können oder sich nur für Posten bewerben, um Geld zu verdienen (Berufspolitiker).
  • Nachteil: Wie schon bei den Grünen bevorzugt diese Struktur die "Aktivisten" in der Partei, die sich dieses Engagement "leisten" können. Berufstätige - auch wenn sie im Vorstand sind - sind im Nachteil.  
Kollaboration:

a) Nutzung des PiratenPads
  • Jeder kann sich anmelden und ohne Einstiegshürden Texte mitschreiben.. 
  • Egal ob zur Erstellung eines Protokolls, die Zusammenfassung einer Diskussion, oder das Verfassen eines Antrags für den Parteitag, die Piraten nutzen sehr häufig Etherpads. Diese ermöglichen die simultane, kollaborative Textearbeit übers Internet. Die Piratenpartei hat  unter www.piratenpad.de einen eigenen Service eingerichetet
b) Das Piraten-Wiki
  • Jeder kann sich anmelden und ohne Einstiegshürden die Seiten des Piraten-Wiki mitgestalten. 
  • Funktioniert ähnlich wie die Wikipedia. Auch hier kann - wie im PiratenPad - jeder mitschreiben. Allerdings ist das Wiki gerade für das gemeinsame Abfassen von Textentwürfen & Anträgen nicht schnell genug. Es wird aber beispielsweise zur Wahlkampf-Organisation genutzt.
  • Zu finden ist das Wiki unter: http://wiki.piratenpartei.de/Hauptseite
c) Kreative Arbeit
  • Plakate, Web-Videos, Musik Internetseiten. Die Piraten gestalten viel gemeinsam 
  • Ebenfalls bekannt sind ReMix-Versuche von bestehenden Kulturgütern. Bekannte Beispiele: Der Plakat-Remix der CDU-Wahlplate von Ex-Innenminister Wolfgang Schäuble (inniziert von Netzpolitik.org) oder Wahlwerbespots.
  • Zentral für diese Zusammenarbeit ist die Creative Commons Lizenz, mit der sich Piraten gegenseitig die Nutzung und Weiterbearbeitung ihrer Kreativarbeit erlauben, ohne Nachfragen zu erzwingen.    
Tendenz zur Dezentralität und zum Chaos:
  • Die finanziell starken Landesverbände. Die Wahlkampffinanzierung wird zu 90 Prozent die Bundesländer der Piraten bevorzugen. 
  • AGs können von jedem Piraten ohne Genehmigung gegründet werden (Übersicht hier)
  • Keine Ämter werden in der Partei bezahlt, was das "Chaos" durch häufige Personalwechsel beflügelt
  • Amtsträger werden stattdessen stets kritisch beäugt und stehen in der Piraten-internen Öffentlichkeit oft unter heftiger Kritik. Besonders bei angeblichen Fehlern, bei Untätigkeit oder bei umstrittenen Entscheidungen von Vorständen.  
  • Antragskommission: In den meisten Parteien in Deutschland werden die Antragskommissionen auf Bundesparteitag vom Bundesvorstand bestimmt. Eine reguliertes Verfahren hat die Piratenpartei bisher nicht eingeführt. Beim letzten Bundesparteitag gab es eine Art freiwillige Antrags-Kommission, die sich zudem auf die Sortierung der Anträge beschränkte und dem Parteitag keine Wahlempfehlung zu allen Einzel-Anträge gab.  
Interne Kommunikation: dezentral, chaotisch, rasant, unüberschaubar, niveaulos

Chaos und Menge: 

In der Piratenpartei gibt es eine ausgeprägte Debattenkultur. Dies dürfte sich nicht von anderen Parteien unterscheiden. Unterschiedlich ist jedoch, dass es, anders in anderen Parteien keine zentralen Kommunikationskanäle gibt und fast alles im Internet stattfindet. Wild geschätzt findet wahrscheinlich 90 Prozent der Kommunikation der Piraten online statt. Sicherlich auch, weil klassische Medien den Mitgliedern der Piratenpartei keine Plattform geben. Einzige Ausnahme für Offline-Kommunikation bilden die kleinsten organisatorischen Einheiten: Die Stammtische und seltene Konferenzen wie die Tagungen OpenLiquid oder die OpenMind (Nicht nur Piraten). Über den Stammtischen bildet sich ein schier undurchschaubares Gewirr an Kanälen, deren mögliche Formen hier aufgezählt werden.

Die populärsten Medien sind unter anderem: 
  • Twitter / Identica, Facebook, Studi-VZ und ähnliche Netze (Übersicht). Eine extrem kurzlebige Kommunikation, an der sich längst nicht alle Piraten beteiligen. Der Vorsitzende der Partei Jens Seipenbusch, nutzt Twitter beispielsweise nur sporadisch.
  • Unter MyPirates entwickeln Piraten ein eigenes soziales Netzwerk, über das sich bereits jetzt Gruppen  
  • Mailinglisten: Über sie läuft sehr viel Kommunikation ab. Die umfangreichste ist die sogenannte "Aktiven" Liste, über die täglich hunderte Mails ausgetauscht werden. Problematisch sind hier jedoch sogenannte "Trolle", die auf Grund der Anti-Zensur-Haltung von den Piraten nur selten gesperrt werden.  
  • Das Piraten-Forum
  • Chat über IRC-Kanäle oder Instant-Messenger
  • Piratenradio, sendet unregelmäßig aber meist live. Oft mit Diskussionsrunden durch Call-In-Technik. Zudem oft live von Parteitagen. 
  • Blogs (Übersicht der wichtigsten privaten und offiziellen Blogs bietet der Piraten-Planet und der Piratenmond)
  • Voice-Chat Konferenzen über Mumble (Server werden u.a. durch Brandenburg und NRW betrieben, aber bundesweit genutzt.). In Mumble werden Vorstandssitzungen fast aller Landesverbände und des Bundesvorstands abgehalten. Zusätzlich gibt es regelmäßige Diskussionsrunden, etwa der sog. "Dicke Engel". 
  • Telefon-Konferenzen. Der Landesverband Hessen betreibt dazu einen eigenen Telefonkonferenz-Server
  • Jabba ist ebenfalls ein Instant-Messanger, der jedoch als offenes Projekt entwicklet wird. Die Piraten betreiben auch einen eigenen Jabber-Server
  • Hinzu kommen drei "Print"-Medien: Die Flaschenpost, Der Kaperbrief (Berlin) und der Kompass. (Hier ist zurzeit ein eigenständiger Verein in Gründung)
  • Zudem zahlreiche Podcasts, die von Piraten produziert werden: Der Flaschencast, Piratenmond, Freibeuterhafen (Südpiraten), Piratengespräche, Piratencafe, Klabautercast.
Offizielle Kanäle für eine interne Kommunikation wurden bisher nicht etabliert. Lediglich für Einladungen zu Bundesparteitagen oder für Erinnerungen der Mitgliedsbeiträge gibt es E-Mails "von oben".


Nievau der Debatte:
Ebenfalls auffällig ist zudem das - fürs Internet typische - oft niedrige Niveau der Debatte. Besonders auf Mailinglisten und im Forum der Piratenpartei, zum Teil aber auch auf Twitter wird nach Herzenslust beleidigt, attackiert und denunziert. Man spricht bei diesem Phänomen auch von Trollen. Dies sind Menschen, die die Möglichkeit der anonymen, zumindest aber entfremdeten Kommunikation entweder gezielt ausnutzen oder enthemmen.
Teilweise kommt es auch zu gezielten Grenzüberschreitungen von Neurechten und Neonazis. In der Partei gibt es jedoch bisher eine ausgeprägte Tendenz, die "Meinungsfreiheit" fast totalitär auszuleben. Die  NetiquettePersönlichkeitsrechte des Einzelnen, noch nicht einmal Strafgesetze werden konsequent durchgesetzt.  Eine Moderation existiert entweder gar nicht, oder wird nicht effektiv ausgeübt. Dies lähmt die interne Debatte der Partei massiv. Viele Piraten haben sich dadurch aus Mailinglisten und Foren zurückgezogen. 


Externe Kommunikation: Dezentral, geringe Wahrnehmung

Sämtliche eben aufgezählte Kanäle wirklich natürlich auch nach außen. Dennoch gibt es hier - im unterschied zur internen Kommunikation - auch einige offizielle Känale:
Jedoch werden die offizielle Pressestatements der Piraten bisher in den klassischen Medien kaum wahrgenommen. Dies hängt sicherlich damit zusammen, dass die Piraten in keinem Parlament sind. Daher sind Aktionen der Mitglieder, etwa die jährliche Freiheit statt Angst Demo (nicht nur Piraten!) oder der Hack des Personalausweis öffentlichkeitswirksamer.

In der Folge sind auch die sozial Media Aktivitäten der Parteimitglieder, der unüberschaubare dezentrale Wahlkampf (zuletzt besonders beim Bundesparteitag 2009 sichtbar) und auch die vielen inoffiziellen Blogs wahrscheinlich öffentlichkeitswirksamer als die Aktivitäten des Bundesvorstands.

Zusammengefasst:

Aus meiner Sicht sind dies die wichtigsten Elemente der innerparteilichen Demokratie. Das Organisations- und Kommunikationschaos unterstützt und ist gleichzeitig Ergebnis der (fast) hierarchielosen Schwarm-Intelligenz der Partei.

Das Tool Liquid Democracy spielt - obwohl es nur eins von sehr vielen Elementen der Inneren Demokratie ist - dennoch eine zentrale Rolle. Denn diese Software muss das große Kommunikations- und Debatten-Chaos bändigen und die vielen Kommunikationsstränge zu einem finalen und auf Bundesparteitagen abstimmbaren Text verdichten, der auch tatsächlich eine Mehrheit finden kann.

Jetzt Du: 

Hab ich noch Elemente vergessen? Ist etwas falsch? Dann ab damit in die Kommentare. Vielen Dank! 

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