Die Piraten wollen die innerparteiliche Demokratie ihrer Partei mit der Einführung von Liquid Democracy verbessern. Um dies zu verstehen, soll im Folgenden ein Blick in die bisher von den Altparteien praktizierte innerparteiliche Demokratie gewagt werden.
Uwe Thaysen [1] hat dies bereits 1986 getan. Er kritisierte bereits damals die "Oligarchisierung" der Parteien in der Bundesrepublik, also die zunehmende Machtkonzentration in den Bundesvorständen und -Präsidien und den Machtverlust für die Parteibasis auf die inhaltliche Ausrichtung der Partei.
Thaysen zitiert zunächst Robert Michels "ehernes Gesetz der Oligarchie" (1911), wonach der Sündenfall mit jeder Form der Organisation beginnt: "Wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie"; und "Die Macht der Führer wächst im gleichen Maßstabe wie die Organisation"; und "Die Mutter der Herrschaft der Gewählten über die Wähler, der Beauftragten über die Auftraggeber, der Delegierten über die Deligierenden" sei die Parteiorganisation.[2]
Thaysen warnt jedoch davor Michels zu überdehnen. Von Gesetzmäßigkeit könne keine Rede sein. 1986 hatten sich die Mitgliederparteien gemeinsam rund zwei Millionen Mitglieder und sich trotzdem nicht in Führerparteien verwandelt, sondern im Gegenteil ein aktives Parteileben. Trotzdem zeichneten sich bereits damals schwere Probleme ab:
Thaysen führte daraufhin in einer Liste alle Tatbestände der Partei-Oligarchisierung auf, die ich hier teils zitierend, teils zusammenfassend wiedergeben möchte:
- Soziale Kluft zwischen Mitgliedschaft (Mittelschicht), Wählerschaft (Unterschicht) und Führung (höhere Sozial- und Bildungsschicht) der Partei
- Zentralisierung aller politisch wichtigen Sach- und Personalentscheidungen, möglichst auf die jeweils höhere Ebene
- "Sachpolitische Entleerung der Partizipation" (Plakate kleben)
- Voksparteien "entschärfen" Parteiprogrammatik und lassen größeren Spielraum zur Entfaltung von Eigenmächtigkeiten der Vorstände
- Konzentrierung der programmatischen Planungen in Expertenzirkeln, Kommissionen und Beratergremien. Kreis- und Ortsverbände können sich daran meist nicht beteiligen und bleiben so außen vor. Entsprechend stammen die entscheidenden Initiativen nicht von den Delegierten, sondern aus der obersten Parteiebene.
- Mehr oder weniger diskrete Regie der Parteitag verhindert chancengleiche Diskussion. Parteiführung hat ein "starkes politisches Übergewicht". Instrumente der Regie sind die Antragskommission, die Redaktionsstäbe und die tunlichst geräuschlose Handhabung der Geschäftsordnung.
- Das vorherrschende (Selbst-)Verständnis der Parteien als Kampforganisation: "Häufig und unerbitterlich - häufig aber auch zu Unrecht - werden innerparteiliche Gegner damit mundtot gemacht. Konsens müsse dann herrschen. Die Parteispitzen bräuchten einen allgemein anerkannten Spielraum freier, zuvor nicht von Parteiversammlungen "abgesegneter" Aussagen. Sind diese Aussagen aber erst einmal gefallen, ist daran nur unter Inkaufnahme des Vorwurfs "unsolidarischen Handelns" zu rütteln.[3]
- Die Parteivorstände haben sich eine Art "programmatische Richtlinienkompetenz" zugelegt und teilweise auch in ihre Satzungen geschrieben (z.B. die SPD).
- Am stärksten ist ihr Einfluss bei der Rekrutierung des Spitzenpersonals. Nur 100.000 Delegierte der zwei Millionen Parteimitglieder entscheiden über sämtliche Kandidaten und damit bereits zwei Drittel des gesamten Bundestages. (Heute ist dies wahrscheinlich noch dramatischer, da oft die Kandidaten für Parteivorstände und Listenplätze schon im Vorfeld von Parteitage ausgeklügelt werden).
- Ganz im Dunkeln der Parteispitze bleibt die Entscheidungsfindung, wer der nächste Kanzlerkandidat wird. Dafür gibt es in Deutschland (anders z.B. in den USA oder Großbritannien) kein festgeschriebenes Verfahren. Dem Parteitage wird der Kanzlerkandidat des Vorstands "präsentiert". Ihm bleibt dann nur noch die Akklamation, Bestätigung durch Beifall.
- Fortschreitende Professionalisierung der Politik teilt die Parteimitglieder in Wissende und Unwissende, in Habende und Nicht-Habende. Die politischen Profis leben nicht nur für die Politik. Sie leben auch von der Politik. Sie sind Eingeweihte. Sie kennen den Apparat, die Spielregeln, die Geschäftsordnungen, den Diskussionsstand der Planungsgremien und - wichtiger noch - den Diskussionsstand der Personalklüngel. Ihr Wissen ist ihre politische Mitgift. Und sie verfügen über Zeit zur Politik.
- Ämterhäufung
- Gewohnheitsanspruch der Amtsinhaber auf Belohnung / Beibehaltung seines Amtes
- Aber auch: Apathie der Mehrheit (andere Interessen, Dankbarkeit, Führungs- und Verehrungsbedürfnis)
Die Tendenz zur Herrschaft der Wenigen innerhalb einer Partei erkennt Thaysen auch im Parteiengesetz, welches - wie das Grundgesetz - von der "Unausweichlichkeit der Herrschaft" ausgeht. Entscheidend sei der Gebrauch und die Kontrolle von Herrschaft. Die innerparteiliche Kontrolle, stellt Thysen fest, sei jedoch innerhalb von Parteien viel schwächer entwickelt, als sie etwa der Bundestag gegenüber der Regierung habe.
Für Thaysen sollte innerparteiliche Demokratie dies sein:
- strikte Befolgung des Mehrheitsprinzips & des Minderheitenschutzes
- entscheidungsorientierte Mitwirkung des einzelnen Parteimitglieds
Dies sei jedoch schon gedanklich schwierig zu realisieren, da die Delegierten bzw. gewählten Parteiführer, den Regeln der repräsentativen Demokratie folgend, nicht an imperative Mandate ihrer Wähler gebunden sind, sondern sich im Gegenteil auch als politische Führer bewähren sollen. Wenn die Delegierten sich nicht an diejenigen orientieren müssen, von denen sie Delegiert wurden, stehe dies dem Prinzip der "innerparteilichen Demokratie" diametral entgegen. (Warum sich repräsentative Demokratie und direkte Demokratie widersprechen, habe ich in diesem Text ausführlicher erklärt)
Dieser Widerspruch wird auch immer dann deutlich, wenn die innerparteiliche Demokratie ausgelebt wird. Innerhalb kurzer Zeit wird Geschlossenheit gefordert. Die im Grundgesetz definierte Parteiaufgabe "Erarbeitung politischer Zielvorstellung" (innerparteilich) koliert also permanent mit der zweiten Aufgabe der Parteien - nämlich der "Beeinflussung der staatlichen Willensbildung im Sinne dieser Zielvorstellung" (externale Wirkung der Partei). Doch in der Regel setzt sich letztere Aufgabe durch, wird die innerparteiliche Meinungsfindung abgewürgt.
In seinem Fazit schlägt Thaysen jedoch versöhnliche Töne an. Er verweist darauf, dass das Parteiengesetz die Sonderrolle des Parteivorstände wolle, und der Vorstand sich grundsätzlich auch für seine Arbeit verantworten müssten. Seine Hauptkritik äußert er an der apathischen Mehrheit, die viel zu oft selbst keine Verantwortung übernehmen wolle.
In seinem letzten Punkt möchte ich Thaysen wiedersprechen. Zum einen wählen die Vorstände ihre Mitglieder größtenteils selber aus. Parteiintern bekannte "Oppositionelle" werden wohl wenig Chancen in diesem Auswahlverfahren haben.
Den Parteimitgliedern Apathie vorzuwerfen halte ich ebenfalls für fragwürdig. Denn wenn die Strukturen keine Möglichkeiten zur inhaltlichen Beteiligung bieten, bzw. diese bewusst erschwert wird, dann trifft der Vorwurf schlicht die falschen.
Zu guter kann der Hinweis darauf, dass sich der Vorstand ja gegenüber der Parteibasis für seine Arbeit rechtfertigen müsse (sofern dieser Prozess überhaupt funktioniert), nicht darüber hinwegtrösten, dass die Mehrheit der Mitglieder sich nicht mehr aktiv in die Parteiarbeit einbringen kann.
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[1] Thaysen, Uwe: "Denken ohne Diskussion? Zur innerparteilichen Demokratie in der Bundesrepublik", in: Graf von Krockow, Christian und Lösche, Peter: Parteien in der Krise, 1986 München, S. 59-71.
[2] Michels, Robert: "Zur Soziologie des Parteiwesens", Stuttgart o.J.,S. 381.
[3] Thaysen weist an dieser Stelle darauf hin, dass zahlreiche Studien gezeigt hätten, dass innerparteilicher Konsens als Erfolgsbedingung der Parteien überschätzt wird. Nicht zuletzt die Grünen hätten trotz anhaltender heftiger innerparteilicher Auseinandersetzungen große Erfolge gehabt.
Kritik kann nur sinnvoll sein, wenn damit gleichzeitig auch Vorschläge für alternative Lösungen verbunden sind.
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