Dienstag, 11. Januar 2011

Wie verändert sich die Rolle des Parteimitglieds durch Liquid Democracy?

Textentwurf für einen Abschnitt über den möglichen Funktionswandel der Parteimitgliedschaft bei einem innperparteilichen Einsatz von Liquid Democracy. Solltest Du Ergänzungen, Kritik, Quellen oder ähnliches haben, poste sie einfach in die Kommentare. Vielen Dank! 

"Wofür brauchen professionelle Parteien noch Mitglieder?" Diese provokative Frage stellte Dr. Klaus Detterbeck von der Universität Magdeburg [1]. In diesem Text möchte ich seine Gedanken kurz zusammenfassen und überlegen, ob Liquid Democracy die Rolle von Parteimitgliedern verändern könnte.

Zunächst konstatiert Detterbeck eine "Professionalisierung" der politischen Parteien, die jedoch mit einer Krise derselbigen einhergeht. Diese ist vor allem anhand der dramatisch sinkenden Mitgliedszahlen ablesbar. 2003 waren (nur) noch 1,55 Millionen Bundesbürger Mitglied einer der sechs im Bundestag vertretenden Parteien. Der Organisationsgrad der Wähler lag mit 2,5 Prozent unter dem Niveau der 60iger Jahre. Gleichzeitig gibt es einen hohen Politisierungsgrad der Bevölkerung, die sich an politischen Entscheidungen beteiligt werden möchte. Das dieser Widerspruch zwischen großem Interesse und geringer Parteimitgliedschaft ein europaweites Phänomen [2] ist, tröstet dabei wenig.

Neben der dramatisch sinkenden Mitgliederzahl, sieht Detterbeck weitere Krisenanzeichen der Parteien:
  • Geringe Rekrutierungsfähigkeit der Parteien in Ostdeutschland
  • Passivität vieler Parteimitglieder in Hinsicht auf das Organisationsleben
  • Unterproportionale Anteil von Frauen
  • Geringe Anzahl junger Parteimitglieder


Ab wann ist eine Partei "modern"? Woran erkennt man "moderne" Parteien? (vgl. Detterbeck S. 290 f.)
  • Das öffentliche Erscheinungsbild und die internen Entscheidungsprozesse der Parteien werden primär durch Berufspolitiker geprägt, die ihre Machtressourcen aus ihren Funktionen in Parlamenten und Regierungen entnehmen.
  • Das staatliche Handeln in Parlamenten und Regierungen ist zum zentralen Bezugspunkt der Parteien geworden. Elitenrekrutierung und Policy-Produktion ist für die Parteien zentral.
  • Programmatische Standpunkte und gesellschaftsgestaltende Projekte der Parteien sind durch die breite Wählerorientierung und die zwischenparteiliche Kooperation im parlamentarischen Alltag schwach konturiert.
  • Bei der Gestaltung der Wahlkämpfe kommt Medien- Marketing- und Kommunikationsexperten, die als Stäbe in den Parteizentralen oder als externe Dienstleister für die Parteien arbeiten, eine herausragende Bedeutung zu.
  • Vielfalt staatlicher Aufgabenfelder, die Karrierestrategien von Berufspolitikern und die Komplexität einer internationalisierten Politik verstärken sich gegenseitig. 
Doch wieso verlieren diese "modernen" Parteien so viele Mitglieder? Detterbeck nennt zwei in der Politikwissenschaft verbreitete Theorien:

A) Parteien sind nicht mehr auf Mitglieder angewiesen und / oder für moderne Parteien können Mitglieder gar eine Belastung darstellen. Mitgliederverlust ist kein Problem, sondern ein gewünschter Nebeneffekt.
B) Parteien sind Opfer diverser neuzeitlicher, gesellschaftlicher Entwicklungen.

A) Gewollter Mitgliederverlust

Nach diesem Modell ist der Rückgang der Parteimitglieder ein bewusstes Kalkül oder zumindest akzeptierte Veränderung und daher gar kein demokratietheoretisches Problem: "Das Konkurenzparadigma akzeptiert die Dominanz politischer Eliten in Massendemokratien." Dem Wähler kommt nur noch die Aufgabe zu, "zwischen konkurrierenden, professionellen Führungsgruppen auszuwählen" (s. S. 292). Innerparteiliche Demokratie wäre in diesem Modell eher schädlich, da sie die Flexibilität der politischen Eliten eingrenzt. Politische Eliten sollen sich diesem Modell nach weniger an den "radikalen Parteiaktivisten", sondern eher am "moderaten Wähler" orientieren. Möglich ist der Verzicht auf Parteimitglieder u.a. durch folgende Veränderung:
  • Massenmedien ermöglichen den Parteieliten eine direkte Ansprache der Wähler. Die Vermittlung durch Parteimitglieder nicht länger zwingend notwendig.
  • Größere staatliche Zuwendungen haben die sinkenden Mitgliedsbeiträge ersetzt.
  • Wahlkämpfe wurden zentralisiert, professionalisiert und sind heute vor allem kapital- statt mitgliederintensiv.
Parteimitglieder sind demnach nicht nur ersetzbar, sondern fast schädlich. Parteien mussten sich für Wahlerfolge öffnen und eine sozial möglichst heterogene Anhängerschaft gewinnen. Parteien sind als Wahlkampforganisationen schließlich zur Stimmmenmaximierung gezwungen. Dies hat zu einer "Entwertung der Rolle des einzelnen Parteimitglieds" [3] geführt.

B) Parteien haben Fähigkeit verloren, Bürger zur Mitarbeit zu motivieren.

Nach diesem Modell, gäbe es eine ganze Reihe an eher gesellschaftlichen Gründen, warum sich weniger Bürger in Parteien beteiligen wollen:
  • Erosion sozialer Milieus & Individualisierungstendenzen.
  • Ein höherer Bildungsstand zu Unabhängigkeit in der politischen Meinungsbildung geführt. Dies schwächt die traditionelle Sozialisierungsrolle der Parteien.
  • Ein höheres Maß an politischen Informationen fördert höhere Ansprüche an politische Partizipationmöglichkeiten und fördert Unzufriedenheiten mit dem hierarchischen und elitezentrierten Politikstil.
  • Das Freizeitverhalten habe sich geändert. Parteien bieten kaum noch soziale Anreize. Zudem gäbe es heute viel mehr Alternativen: Fernsehen, Sport, Vereine. Weitere Gründe: höherer Wohlstand, veränderte Konsumgewohnheiten.


Detterbeck sieht jedoch vor allen Dingen jedoch im ersten Ansatz die Ursachen für den Mitgliederverlust. Parteien haben demnach mit dem Mitgliederverlust zu leben gelernt und sich damit abgefunden. Dies sei jedoch problematisch, da die Parteimitglieder auch heute für die demokratische Legitimation der Institution "Partei" ausschlaggebend ist. Nur bei einer breiten Beteiligung der Bevölkerung in einer aktiven innerparteilichen Demokratie könnten die Parteien ihre herausragende Position in praktisch allen staatlichen Institutionen rechtfertigen.
"Hier begegnen wir also einem ganz anderen demokratietheoretischem Verständnis des politischen Prozesses als im zuvor skizzierten Konkurenzparadigma. Während dort Mitglieder das Funktionen des zwischenparteilichen Wettbewerbs eher erschwerten, wird im Trasmissionsparadigma erst durch die aktive Partizipation der Bürger das demokratische Prinzip mit Leben erfüllt".
In seinem Fazit kritisiert Detterbeck die halbherzigen Lösungen mit denen die Parteien bisher am Problem "fehlende innerparteilichen Demokratie" herumexperimentieren. Er fordert, dass sich die Parteien klar entscheiden sollten: Entweder sie setzen auf einen effizienten, autonomen Parteivorstand und finden sich damit ab, dass ihre Partei nur wenige Parteimitglieder hat, oder sie setzen auf eine effektive Mitbestimmung der Basis, um die dann die Vorteile einer Mitgliederpartei wahrnehmen zu können. Eliteautonomie des Vorstands und Mitgliederengagement gleichzeit zu realisiert, führe jedoch nur zu vielen Widersprüchlichkeiten:
"So führen Parteien Urwahlen ein, arbeiten jedoch darauf hin, dass diese keine große Rolle spielen oder rein affirmativ wirken. So geben Parteiführungen vielfach Möglichkeiten der Aussprach, untergraben aber zugleich die Entscheidungskompetenzen der Parteigremien. Ob Regionalkonferenzen, Diskussionsforen oder Online-Kommunikation, die Emphase liegt auf der Anhörung der Mitglieder, nicht jedoch auf deren Voten. [Dies] wird den Mitgliederschwund nicht stoppen können." (S. 302)
"Parteien sind, ohne das Problem wirklich in den Griff bekommen zu können, somit zu Recht besorgt, wenn die Attraktivität ihrer Mitgliederorganisation aufgrund mangelnder Partizipationschancen weiter abnimmt" (S. 303)
Was könnte Liquid Democracy an der Situation verändern?

Zunächst einmal möchte ich Detterbeck insofern widersprechen, dass hier nicht primär die Parteien in der Krise stecken. Denn diese leben - wie er es beschrieben hat - eigentlich ganz gut mit der Situation, auch wenn ihnen zunehmend die Mitglieder "wegsterben". Die eigentliche "Krise" erlebt ja zurzeit das demokratische System in der Bundesrepublik. Nicht zur Heilung der Parteien, sondern zur Heilung des gesamten politischen Systems, muss die innerparteiliche Demokratie "repariert" werden.

Liquid Feedback ist erfüllt dabei die Forderungen, die Dr. Detterbeck definiert hat: Es wäre ein ernstzunehmendes, direktdemokratisches Tool, welches umfangreiche Möglichkeiten der Beteiligiung einräumt, welches (je nach Implementierung) tatsächlich den Handlungsspielraum der Parteieliten einschränken könnte. Was passierte, wenn sich die Mehrheit der CDU-Anhänger gegen eine Verlängerung der Atomlaufzeiten ausspräche? Es ist zu erwarten, dass das Gefühl "Einfluss zu haben", durch Liquid Feedback erheblich steigt, selbst wenn sich Vorstand und Fraktionen sich nicht an jeden Beschluss hielten.

Aber Liquid Democracy geht noch über die Forderung nach nur "einem Tool zur direktdemokratischen Meinungsfindung" hinaus. Und diese Plus ist der Funktion zu sehe, dass es jedem einzelnen Parteimitglied ermöglicht Initiativen zu eröffnen und dafür in seiner Partei Mehrheiten zu finden.

Detterbeck hat oben beschrieben, dass Parteivorstände aus wahltaktischen Gründen dazu neigen, deutliche Positionen zu vermeiden und sich in Kompromissformulierungen ergehen, um breitere Wählergruppen anzusprechen, aber auch um alle Parteiflügel zu integrieren. Zudem sollen Programmanträge auf Bundesparteitagen auf keinen Fall abgelehnt werden. Dies wäre ein Gesichtsverlust für den Vorstand.

Ein einzelnes Parteimitglied hat tendenziell eine höhere Risikobereitschaft Anträge einzubringen, die eventuell keine Mehrheit in seiner Partei findet. Auch denken einzelne Parteimitglieder weniger strategisch, wo eine optimale "Gesamtausrichtung" ihrer Partei läge, sondern wollen einfach nur "ihre" Position durchsetzen. Dies kann zu deutlichen innerparteilichen Überraschungen führen. So geschehen in der Piratenpartei, die sich deutlich für eine Abschaffung des Inzestparagrafen aussprach. Einen solch heiklen Antrag - ohne gesellschaftlich dringende Notwendigkeit - hätte jeder Vorstand wohl vermieden. Zum einen weil die Abstimmung vollkommen unvorhersehbar gewesen wäre, zum anderen wohl auch um ein potentielles Angriffsziel für andere Parteien im Wahlkampf zu verhindern.

Langfristig könnte Liquid Feedback so die Profile der Parteien wieder schärfen und damit auch die von Dr. Detterbeck beschriebene "verlorene soziale Identifikation" mit den Parteien wieder schaffen. Auch könnte die permanente Korrektur der Basis (die ja oft auch in Kompromissen läuft) dazu führen, dass die Partei viel eher den Interessen der Wähler entspricht und so sogar die Wahlchancen der Partei erhöhen.

Insgesamt erscheint mir das Modell der innerparteilichen Demokratie überzeugender. Bürger sollte nicht nur alle vier Jahre die Möglichkeit haben, auf die politischen Eliten mit einer Abwahl oder Bestätigung reagieren zu können. Gerade die so oft zitierte Komplexität der Politik, macht es für die Wähler notwendiger denn je, themenbezogen Einfluss nehmen zu können, ohne gleich mit die Abwahl-Keule zu schwingen.


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(1) Detterbeck, Klaus: Mitglieder in professionalisierten Parteien: Wofür brauchen Parteien noch Mitglieder?; in: Melchert, Florian (Hrsg.): Neuanfang Statt Niedergang - Die Zukunft der Mitgliederparteien, Berlin 2009, S.289-304.
(2) Scarrow, Susan E.: Parties without members? Party organization in a changing electoral Environment, in: Dalton, Russel J./Wartenberg, Martin P. (Hrsg.): Parties without Partisans. Political change in advanced industrial democracies. Oxford 2000, S. 79-101.
(3) zitiert nach Detterbeck: vgl. Kirchheimer, Otto: Der Wandel des westeuropäischen Parteiensystems, in: Politische Vierteljahresschrift 6, 1965, S. 32.

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