Samstag, 8. Januar 2011

Was würde Jean-Jacques Rousseau von Liquid Democracy halten?

Erster Textentwurf für einen Abschnitt zur theoretischen Einsortierung von Liquid Feedback. Quellen und Zitate werde Schritt für Schritt ergänzt. Solltest Du Ergänzungen, Kritik, Quellen oder ähnliches haben, poste sie einfach in die Kommentare. Vielen Dank! 

Die Politikwissenschaftlerin und Ex-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, hat sich 1986 zum Rotationsmandat der Grünen zu Wort gemeldet. Ihr Text [1] wirft grundsätzliche Fragen auf, die hier als Einstieg für die Frage dient, wo Liquid Democracy philosophisch zu verorten ist.

Der Verstoß der Grünen in den 80iger Jahren war eine spannende Idee: Abgeordnete sollte in der Mitte der Legislatur ihr Mandat aufgeben, damit ihre Nachrücker ihr Amt übernehmen. Dies sollte verhindern, dass sich die Bundestagsabgeordneten vom "Normalvolk" und vom Wählerwillen entfernen, sowie Machtmissbrauch und das Aufkommen von grünen Berufspolitiker erschweren Die Grundidee der Mandatsrotation geht auf direktdemokratische Ideen aus der Französischen Revolution bzw. der Räterepublik zurück. Liquid Democracy möchte ebenfalls die Politik wieder stärker an den Wählerwillen binden. In welche Schublade gehören also diese Ideen?


Gesine Schwan diskutiert in diesem Zusammenhang die zwei großen europäischen demokratietheoretischen Traditionen: Die identitäre (direktdemokratische) und die repräsentative Demokratie. Dies will ich kurz nachvollziehen, um anschließend eine Einsortierung von Liquid Feedback vorzunehmen.

1.) Identitäre / direkte Demokratie 
Vertreter: Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Lenin, Anarchisten, moderne Protagonisten der Räterepublik
Kernidee: Volk behält absolute Souveränität über seinen Willen. Gewählte müssen daher sich absolut an den  Wählerwillen halten. Abgeordnete dienen nur als "technisches Medium" in großen Flächenstaaten, quasi als "ausführendes Organ", ohne eigenen politischen Willen. Abgeordnete sind permanent abrufbar. Imperatives Mandat, d.h. Gewählter kann nicht vom Wählerauftrag abweichen, vertritt nur die Interessen seiner Wähler.
Ideale: Abschaffung der "Herrschaft" der Wenigen über die "Beherrschten"
Probleme: Was ist der Wählerwillen?

Rousseau: Ziel muss nicht der "Willen aller", sondern der Gemeinwillen ("volonté generale") sein.  Dies sei das, was nach Abzug nach allen individuellen bzw. partikularen Interessen einzelner sich als Vorteil für die gesamte Gesellschaft / Volk herausstellt. [Die Forderung nach "Demokratie" war damals undenkbar. Rousseau ging es mit dem volonté generale primär darum, den Monarchen ihre qua katholischer Kirche verliehene "gottgegebene" Legitimation zu entziehen.]

Doch selbst im 20 Jahrhundert würde sich die Frage stellen, wie man zu hunderten Themen den Gemeinwillen festellsten könnte. Für Rousseau und auch für viele Sozialisten, ist identitäre Demokratie nur unter zwei Bedingungen möglich:

1.) Die Gesellschaft muss durch Erziehung / Aufklärung / Bewusstseinswerdung ihre Interessensgegensätze überwinden und homogen werden. Der Mensch sich dadurch vom egoistischen in ein solidarisches Wesen wandeln. Der Mensch fände dann seine Erfüllung dann nicht in der Unabhängigkeit von der Gesellschaft, sondern in der Vereinigung mit dem Gemeinwillen.
2.) Die Gegenstände der Gesetzgebung müssen einfach, für jeden politischen Laien durchschaubar und handhabbar bleiben.

Marx erhoffte sich anders als Rousseau, dass die geschichtliche Entwicklung des Produktionsprozess zu einem homogenen Gemeinwillen führen werde. Lenin wiederum war bereit den Gemeinwillen durch Zwang einer Minderheit über die Mehrheit durchzusetzen.

2.) Repräsentative Demokratie 
Vertreter: John Locke, Charles de Montesquieu, Ernst Fraenkel, Edmund Burke
Kernidee: Es gibt keine völlige Übereinstimmung zwischen Wählern und Gewählten (Realität zu komplex, zum Zeitpunkt der Wahl sind nicht Informationen über alle Entscheidungen der Legislatur vorrätig). Der Gewählte kann vom Wählerwillen abweichen. Der Gewählte ist nicht abrufbar. Der Gewählte vertritt Allgemeininteressen, nicht nur die Interessen "seiner" Wähler. Das "freie Mandat" sichert Unabhänigkeit gegenüber Partei und Wähler ab. Wähler kann "nur" nach Ablauf von Wahlperiode das "Gesamtverhalten" des Kandidaten beurteilen, nicht jedoch einzelne Entscheidungen.
Ideale: Sicherung individueller Freiheit, Gewaltenteilung, Debatte im Parlament
Probleme:
a) Argumentative Debatte im Parlament illusorisch. Stattdessen Schaukämpfe für die Öffentlichkeit.
b) Freies Mandat faktisch kaum realistisch. Es wird missbraucht für individuellen Vorteil oder steht unter dem Druck von Lobby- oder Wiederwahl-Interessen und / oder Fraktions-, Koalitions- und Parteizwängen.
c) In der Folge geht der eigentliche Wählerauftrag bzw. die Bindung zwischen Wähler und Gewähltem oft völlig verloren mit katastrophalen Folgen wie Vertrauensverlust, Politikverdrossenheit und Ablehnung gegenüber dem repräsentativen System.

Zwischen-Ergebnis:

Gesine Schwan sortiert das Rotationsprinzip der Grünen in die erste Gruppe ein (ohne freilich die Grünen  in eine Ecke mit Lenisten oder Marxisten zu stellen). Sie erkennt den Versuch an, Rousseaus direktdemokratische Ideale ohne eine Diktatur einzuführen zu wollen. Trotzdem erklärt sie, dass das angestrebte Ziel nicht erfüllt werden kann, wenn weder die Bedingung der harmonischen Gesellschaft noch der radikal vereinfachten politischen Entscheidung erfüllt sind. Solange dies nicht geschieht, profitiert vom Rotationsprinzip nicht das Volkswille, sondern die Institution, die den Abgeordneten zur Rotation zwingt.

Und wohin gehört nun Liquid Democracy? 
Leider gibt es bisher keine "offizielle Definition", noch einen Philosophen, der "das" Liquid Democracy Modell definiert hat. Stattdessen möchte ich an dieser Stelle auf vorläufige Definition aus dem Piraten-Wiki und diese Veranschaulichungen verweisen.

Wie die Piraten werde ich im Folgenden zwischen dem gesamtgesellschaftlichen (1.) und dem innerparteilichen (2.) Ansatz von Liquid Democracy unterscheiden:

(1.) Liquid Democracy gesamtgesellschaftlich verbindliches Entscheidungstool

Liquid Democracy behauptet eine Mischform zwischen direkter und repräsentativer Demokratie zu sein. Diese Behauptung ist jedoch nur teilweise richtig. Denn Liquid Democracy ist ja nichts anderes als die  Abschaffung des Parlaments und seiner Abgeordneten / Repräsentatnten [2]. Ersetzt wird das Parlament durch eine transparente Abstimmungs-Software im Internet indem jeder Bürger eine Stimme hat. Alle Entscheidungen die bis dahin das Parlament getroffen hat, werden nun durch die Bürger in der Software getroffen [3]. Es ist also eigentlich die radikalste Form einer Direktdemokratie, die vorstellbar ist.



Welche Folgen hat dies? Nun - zunächst einmal fällt der komplette Problembereich weg mit dem sich Rousseau, Marx und Lenin oder Vertreter der Räterepublik zu kämpfen hatten. Denn es kann keine Differenz mehr zwischen dem Bürgerwillen und dem Willen ihrer Repräsentanten geben. Warum? Weil es keine Repräsentanten mehr gibt. Die "delegierten" Stimmen können bei Unzufriedenheit ja jederzeit zurückgezogen oder auf jemand anderes übertragen werden.

Damit ist auch die (wohl?) utopische Hoffnung auf einen durch Umerziehung oder Diktatur herbeigeführten Gemeinwillen ("volonté generale") überflüssig. Statt einer "Diktatur der Wenigen", die einen wie auch immer begründeten Gemeinwillen durchsetzen, herrscht in der Liquid Democracy die Mehrheit.

Und die kann sich durchaus ändern. Denn im Gegensatz zur Direkten Demokratie gibt es keine Bindung von Abgeordneten an vorher festgelegte, unveränderbare Beschlüsse. Gesetze und Beschlüsse in der Liquid Democracy gelten - wie in der parlamentarischen Demokratie - solange, bis sie durch einen anderen Beschluss / Gesetz aufgehoben werden.

Es gibt also auch, wie in der repräsentativen Demokratie, konkurrierende Interessen, die sich (hier muss mangels Implementation spekuliert werden) höchstwahrscheinlich auch in Interessenorganisationen sammeln werden.
Durch das Konzept der "Delegation" an Freunde, Experten oder Gruppierungen kann trotzdem gleichzeitig Komplexität für den einzelnen Bürger reduziert werden. Er muss sich nicht mehr mit Politik beschäftigen, als in der repräsentativen Demokratie, kann es aber. Ein weiterer Punkt warum, Komplexität kein großes Problem mehr darstellt, erklärt sich über die neuen Eigenschaften des Mediums Internets, wie Schwarminterligenz oder der Aufhebung der Informationstransportskapazität, siehe dazu ausführlich hier.    
FAZIT: Ich würde also die Liquid Democracy als eine radikale Form der direkten Demokratie einstufen, die jedoch - da sie auf Repräsentanten verzichtet, viele Probleme früherer Vorschläge für direkte Demokratie zumindest auf theoretischer Ebene umgeht.
Um die Frage der Überschrift zu beantworten: Rousseau wäre wohl begeistert gewesen.

[Interessant könnte allerdings die Frage sein, ob die (wie auch immer gewählten) Chefs der Exekutive (Minister, Staatssekretäre und Regierungschefs) sich gegenüber den von der Mehrheit getroffenen Entscheidungen verhalten und ob man Ihnen Abweichungen erlaubt. Unter Umständen hat sich das Dilemma der Delegation nur auf sie verschoben?]

(2.) Liquid Democracy als innerparteiliches Tool zur Meinungsbildung in der Piratenpartei Deutschland 

Die jetzt zurzeit in der Piratenpartei geschaffene Software-Lösung namens Liquid Feedback, ist aus theoretischer Sicht wesentlich einfacher einzusortieren. Mangels Entscheidungsmacht kommt ihr weder eine Einsortierung in die repräsentative noch direktdemokratische Demokratietheorie zu. Stattdessen ist die Software als eine Art fakultativer "Feedback-Kanal" der breiten Parteibasis für die Entscheidungsgremien der Partei (zurzeit der Vorstand und die Parteitage) anzusehen.

Grundsätzlich ist die innerparteiliche Anwendung, ähnlich wie oben beschrieben, als direktdemokratisches Tool einzustufen. Allerdings kann der Parteivorstand und der Bundesparteitag von den Entscheidungen problemlos abweichen.

FAZIT: Das freie Mandat der repräsentativen Demokratie (hier im Bezug auf den Parteivorstand) bleibt also gewahrt. Liquid Feedback ist in diesem Zuammenhang und zum jetzigen Entwicklungszeitpunkt nur ein Tool der parteiinternen Meinungsbildung, -entwicklung und -Dokumentierung. Daraus ergeben sich überhaupt keine demokratietheoretischen Probleme.

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[1] Schwan, Gesine: Abgeordnete auf Widerruf, in: Graf von Krockow, Christian und Lösche, Peter: Parteien in der Krise, 1986 München, S. 135 -145.
[2] Es gibt auch Vertreter, die an einem Parlament und Parteien festhalten und Liquid Feedback nur als ergänzendes kollektives Meinungsfindungs- und Gesetzvorschlagungstool begreifen.
[3] Unklar ist mir jedoch noch wie Regierungen, also vor allem die notwendigen (politisch verantwortlichen) Minister und Staatssekretäre der Ministerien, gewählt werden und wie oft ihre Abwahl möglich ist.

1 Kommentar:

  1. Über Twitter habe ich mit "@publictorsten" diskutiert. Dies wollte ich kurz hier festhalten.

    Was würde Jean-Jacques Rousseau von Liquid Democracy halten? http://ow.ly/3AB7o #lqfb #piraten #liquid

    publictorsten: @SebJabbusch wo kommt die ausreichende Unterrichtung des Wählers über sämtliche politische Entscheidungen ins Spiel?

    @publictorsten es ging mir um eine Einsortierung in die Theoriewelten, nicht um die perfekte Erfüllung einer Theorie.

    @SebJabbusch schon klar, aber das Konzept des Gemeinwillens ist IMHO Liquid Feedback entgegengesetzt

    @publictorsten sehe ich auch so. Nur ist der Gemeinwille als Konzept nicht mehr nötig, wenn es keine Delegierten mehr gibt. Siehe Text!

    @SebJabbusch wenn Du sagt "Gemeinwille ist unnötig" kannst Du Dich schlecht auf Rousseau beziehen

    @publictorsten stell dir doch erst mal die Frage warum R. Und auch die Kommunisten einen Gemeinwillen für notwendig hielten...

    @SebJabbusch wenn du auf die Ebene gehst, kannst Du auch Thomas von Aquin und Plato als LQFB-Fürsprecher aufführen

    @publictorsten ich hab R. nicht als Fürsprecher genannt. Ich sage nur es passt in sein Konzept. #lqfb

    @SebJabbusch das Konzept von Rousseau ohne volonte general und ohne Bildung?

    @publictorsten R. ist imo vor allem ein Vordenker der Direktdemokratie und der Räterepublik...

    @SebJabbusch und LQFB ist beides nicht

    @SebJabbusch du kannst fragen, ob die LQFB-Macher Rousseaus Thesen mögen, umgekehrt ist es IMHO einfach nicht möglich

    @publictorsten Liquid Democracy ist keine Räterepublik, aber ein direktdemokratisches Modell. Daher ist d Blick in die Vergangenheit legitim

    @publictorsten Nochmals, ich wollte Liquid Democracy vor allem zwischen repräsentativer &direktdemokratischer Demokratie einsortieren. #lqfb

    @SebJabbusch und ich wollte Deinem Fazit im letzten Absatz widersprechen :-)

    @publictorsten ok, das ist natürlich möglich - danke für die Anregungen !

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