Mittwoch, 12. Januar 2011

Tagesthemen-Interview mit Kanzlerin der Piratenpartei im Jahre 2030

Der folgende Text ist nicht Teil meiner Magisterarbeit, sondern eher eine spaßige Utopie. Ausgangslage: Die Piraten sind im Jahre 2030 erstmals auf allen Ebenen in der Politik angekommen. Als erstes haben sie eine bundesweite, freiwillige Liquid Democracy Instanz gestartet. Wie sehen dann Interviews der Tagesthemen mit dem Spitzenpersonal aus? 

Tagesthemen: Guten Abend Frau Kanzlerin!
Frau Graf (Piratenpartei, Kanzlerin): Guten Abend Herr Buhrow!



(Bildmontage, links Tom Buhrow, rechts Susanne Graf, z.Z. stellv. Vorsitzende Junge Piraten)

Tagesthemen: Frau Graf, gegen den Bau des neuen Stromleitungsnetzes Euro II hat sich in mehreren Bundesländern erheblicher Widerstand formiert. 173.000 Leute haben gestern Protest-Tweets mit dem Hashtag #Euro-II-nein abgesetzt. Dies ist doch ein deutliches Zeichen. Wie werden sie entscheiden?
Kanzlerin: Nun, zum einen möchte ich darauf hinweisen, dass es etwa 370.000 Tweets für den Bau des Euro II Stromnetzes gab. Ich werde dies aber nicht alleine entscheiden. In der bundesweiten Liquid Instant läuft ab kommender Woche eine Abstimmung zum jetzigen Vorschlag. Unsere Partei - die Piraten - da haben Sie Recht, setzen sich seit dem Parteitag in München 2020 für die neue Stromtrasse ein. Aber natürlich werden wir uns der Entscheidung der Gesamtbevölkerung fügen. Ich kann nur alle auffordern sich ab kommender Woche wieder einzuloggen und abzustimmen.

Tagesthemen: Aber wäre dies nicht eins Gesichtsverlust für Ihre Regierung, wenn Sie das neue Stromnetz nicht durchsetzen können?
Kanzlerin: Ja - da haben sie Recht, das ist uns unangenehm. Das haben Sie sicher gestern auch im Livestream der Kabinettssitzung meiner Regierung verfolgt. Dies ist ein Thema das viele meiner Minister und Parteimitglieder emotional erregt. Wir brauchen diese Stromleitung mit dem sauberen Solarstrom aus dem Süden. Aber das Thema betrifft alle Deutsche. Ich darf in der Regierung nicht den Fehler machen, nur unsere Interessen allein zu betrachten, nur weil "wir" in dieser Legislatur an der Macht sind. Wir sind ja gewählt worden, um diese Form der "Partikular-Demokratie" abschaffen. Deutschland braucht Entscheidungen, die länger anhalten und nicht von der nächsten Regierung wieder aufgehoben werden, wie anno 2010 der Atomausstieg-Ausstieg, als es die FDP noch gab.

Tagesthemen: Ich habe mich vorgestern auch in die Vorstandssitzung ihrer Partei eingeklinkt - auch dort flogen die Fetzen. Ähnlich im Forum, im Wiki und auf den Mailinglisten ihrer Partei. Wo stehen sie denn nun?
Kanzlerin: Sie wissen ja, dass es in unserer Partei eine sehr offene Kultur der politischen Debatte gibt. Bei all der Leidenschaft verlieren manche Mitglieder - wie im realen Leben - manchmal die Geduld. Doch dies gehört zu einer lebendigen Demokratie einfach dazu. Wo unsere Partei inhaltlich steht, können Sie aber ganz klar an den vielfachen Entscheidungen in unserem innerparteilichen Liquid Feedback Abstimmungssystem ablesen, sowie am weiterhin gültigen Bundesparteitagsbeschluss von 2020.

Tagesthemen: Sie müssen Euro II ja in jedem Fall durchsetzen, dies hat die EU-Kommission beschlossen, um das europäische Netz insgesamt auszubauen?
Kanzlerin: Die Menschen in Bayern sind ja auch nicht grundsätzlich gegen Strom, sondern die konkrete Streckenplanung. Dies schreiben sie zumindest in ihren Blogs und den vielen Protest-Nachrichten, die uns im Kanzleramt erreicht haben. Wir werden einen Kompromiss finden.

Tagesthemen: Und wo liegt der Kompromiss?
Kanzlerin: Nun, Herr Buhrow. Das kann ich allein nicht wissen. Die Streckenplanung ist zum komplex, um dies als Einzelperson oder Regierung zu überschauen. Für den Fall, dass wir mit dem jetzigen Vorschlag scheitern, wird das Wirtschaftsministerium alle Unterlagen der ersten Planungsphase veröffentlichen. Außerdem würden wir die Streckenplanung wiederholen. Diesmal dann aber nach dem Piratenprinzip. Im Rahmen unser sowieso laufenden "open-Governance" Initiative soll dann in einem (Adhocracy-)Wiki gemeinsam mit den Bürgern eine neue Streckenplanung gefunden werden, die die geringste Schäden anrichtet. Land für Land. Wir laden alle ein mitzuarbeiten und...

Tagesthemen: Hätten Sie nicht von vornherein so vorgehen können?
Kanzlerin: Ja - dies war ein Fehler. Sie haben Recht. Als Entschuldigung kann ich nur anführen, dass wir die Planung von unser Rot-Rot-Grünen Vorgängerregierung übernommen haben, die sich weder um Mitbestimmung, noch um die Freiheitsrechte der einzelnen Bürger als zu viel Sorgen gemacht hat. Wissen Sie was wir bei Amtsantritt in den Ministerien vorgefunden haben?

Tagesthemen: Was?
Kanzlerin: Faxmaschienen!

Tagesthemen: Nun, schnell noch zu unserem zweiten Thema. Gestern gab es in Stuttgart Straßen-Proteste gegen den Stromnetzbau, da im Schlosspark dafür einige Bäume gefällt werden müssen [Anm. des Autors: Ok - an der Stelle sehr konstruiert *G*]. Obwohl die Veranstaltung völlig friedlich war, gab es plötzlich einen Einsatz der Polizei mit Pfefferspray und Wasserwerfer. Etliche Verletzte waren das Ergebnis. Wer trägt dafür Verantwortung?
Kanzlerin: Der Polizeieinsatz ist Ländersache. Trotzdem haben Sie Recht. Wir tragen als Bundesregierung natürlich immer die Verantwortung, wenn Menschen im Rahmen einer politischen Debatte auf die Straßen gehen.

Tagesthemen: Nun schöne Worte, aber davon hat niemand etwas. Was soll denn jetzt passieren?
Kanzlerin: In Absprache mit unseren Piraten aus Stuttgart werden wir eine Crowdsourcing-Recherche der Vorfälle einleiten. Wir laden alle Bürger ein, ihre Video der Ereignisse auf das offene Bundesportal der Staatsanwaltschaft für Polizeiverbrechen hochzuladen. Alle Bürger sind dann eingeladen, mitzuhelfen das umfangreiche Material zu sichten und Gewalttäter in der Polizei zu identifizieren. Ein dort angeschlossenes Forum und Wiki hilft der Dokumentation. Die Staatsanwaltschaft wird dann anhand der gesammelten Beweise den ganz normalen Rechtsweg vor den Gerichten beschreiten.

Tagesthemen: Aber kann dies nachhaltig Gewalt der Polizei verhindern?
Kanzlerin: Nun - wir hoffen durch eine höhere Aufklärungsrate auf einen Abschreckungseffekt. Notfalls müssen wir darüber nachdenken, die jetzt seit einem Jahr eingeführte bundesweite Nummern-Kennzeichnung der Polizisten noch zu vergrößern.

Tagesthemen: Glauben Sie, dass Sie bei all diesen Krisen noch einmal wiedergewählt werden können?
Kanzlerin: Auch ich mache Fehler. Ob es für eine Wiederwahl reicht, entscheiden bei uns bekannterweise die Parteimitglieder in einer bundesweiten briefgestützten Urabstimmung. Aber ja, ich bin optimistisch.

Tagesthemen: Zum Schluss noch die Frage: Sowohl die CDU als auch die SPD sind bei der Landtagswahl in NRW an der 5 Prozent Hürde gescheitert. Besorgt sie das?
Kanzlerin: Nein. Demokratie ist Wandel. 

Tagesthemen: Vielen Dank für das Interview!
Kanzerlin: Gerne wieder, ich stehe Ihren Zuschauern noch für 30 Minuten im Chat zur Verfügung.

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(Susanne Graf dient hier nur als Symbol! Sie hat den Text weder geschrieben, noch abgesegnet. Das Foto stammt von der Homepage der Jungen Piraten und steht wie diese Seite unter einer CC Lizenz.)  

6 Kommentare:

  1. Ahoi Sebastian,

    Wenn man nichts ahnend am Computer nur noch liest man sei Bundeskanzlerin und kennt diesen Blog nicht, geht man lieber ins Bett. So auf jedem Fall mein erster Gedanke als ich am PC von allen nur mit Bundeskanzlerin begrüßt wurde. Mein Kopf war gerade bei der Weimarer Reichsverfassung von 1919 und dann sah ich da das Bild und war extrem überrascht. Nächstes mal bitte vorwarnen, so ein verwirrender Augenblick ist nichts, was ich nochmal überlebe. ^^
    Ich danke dir für die Arbeit und das dabei enstandene amüsierende Werk.
    Eine der Antwort bereitet mir allerdings großes Unbehagen. Ich fände es besorgniserregend, wenn CDU und SPD die 5% nichtmehr erreichen würden. Natürlich kann ich genauso wenig wie du die politische Situation in 2030 einschätzen. Allgemein gesehen vertreten diese Parteien die "bürgerliche Mitte". Ein weit ausgebreitetes Parteienleben ist wichtig, um konsensfähig zu bleiben. Das von dir vorhergesehene Wahlergebnis lässt vermuten, dass sich die Gesellschaft in Extreme entwickelt hat. Das wäre sehr demokratieschädlich und traurig.
    Das politische Reden in der Art und Weise, wie du es dargestellt hast, liegt mir dennoch nicht so ganz. Auch wenn die Antworten mit Bedacht gewählt sind, ähneln sie in der Formulierung doch den Ausflüchten der bislang "normalen" Politiker.

    Alles Liebe
    Suse

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  2. Hallo Suse,

    Entschuldige bitte, dass ich Dich in das Bild einfach mal so reinkonstruiert habe. Aber es geht mir weniger um Dich, sondern eher um die grundsätzliche Frage, wie sich die politische Verantwortung generell ändern würde, wenn die Bürger direkter in allen Bereichen der Politik partizipieren könnten.

    Mit der CDU / SPD hast Du Recht. Aber vielleicht gibt es bis dahin neue Parteien der Mitte? Wer hätte von den Grünen vor kurzem noch mit 20 % gerechnet? Ich glaube CDU & SPD sind nicht auf alle Ewigkeit festgenagelt. Wichtig wird für diese Parteien sein, inwie weit sich die Parteispitzen der demokratischen Mitbestimmung ihrer Partei-Mitglieder öffnen.

    Je hierarchischer eine Partei ist (oder sich gibt), desto unattraktiver wird sie für den Wähler (Beispiel FDP), so meine These. Dies gilt zumindest immer dann, wenn das Führungspersonal so gar nicht geht ;)

    Besten Gruß, Seb

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  3. P.S.: Übrigens hatte ich es eigentlich so formulieren wollen, dass es "keine" Standartantworten sind. Einige Beispiele:

    Die Piratenkanzlerin:

    - schiebt die Verantwortung nicht ab, obwohl sie formell nicht verantwortlich ist

    - gibt Fehler zu, ohne lange drum herum zu formulieren

    - reagiert auf Bürgermeinungen (Tweets / Protestbriefe)

    - nimmt nicht für sich in Anspruch Entscheidungen allein zu treffen, sondern wartet direktdemokratische Entscheidungen ab

    - und ist sogar mal witzig ;)

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  4. Mir ist schon klar, dass du mich nur als Symbol nutzt. Aber da ist nunmal mein Gesicht und es steht eine Meinung unten drunter, die von manchen gegebenenfalls als meine angesehen werden könnte. Und daher wollte ich meinen Senf auchnoch dazugeben ;)
    Mich hat die häufige Wiederholung des "nun"s an die Politiker erinnert. Natürlich stellst du dort eine Kanzlerin vor, die sich ihrer selbst sehr bewusst ist. Und das finde ich auch durchaus gut, dennoch benutzt sie grammatikalisch ähnliche Verwendungen, die wie oben erwähnt dem "typischen" Politiker ähneln.

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  5. Tippfehler in der letzten Frage: "Zum Schluss noch die Frage: Sowohl die CDU als auch die SPD sind bei der Landtagswahl in NRW an der 5 Prozent Hürde gescheitert."

    Die 5%-Hürde ist natürlich längst abgeschafft. Man braucht ca 0,5% für ein Landtagsmandat. Daran sind sie gescheitert...

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